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Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

„Bücher aus Stein bewahren Biografien“ – eine Führung am jüdischen Friedhof in Gunzenhausen

Es ist ein heißer Sonntagnachmittag. Trotzdem finden sich mit mir vier weitere Interessierte auf dem jüdischen Friedhof in Gunzenhausen zur Führung „Bücher aus Stein bewahren Biografien“ ein. Elke Hartung nimmt uns eineinhalb Stunden mit in eine Zeit, in der jüdisches Leben in Gunzenhausen zum Stadtbild gehörte.

Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

Der jüdische Friedhof in Gunzenhausen ist ein besonderer Ort. Still. Andächtig. Der Friedhof wurde auf 3.500 Quadratmetern um das Jahr 1813 angelegt, erzählt Elke Hartung. Der vorherige, sehr viel größere jüdische Friedhof in Gunzenhausen war nach dem 30-jährigen Krieg aufgegeben worden. Die jüdische Gemeinde sei damals zu klein gewesen, so Hartung. Dort wo der Friedhof war, steht heute das Hallenbad.

40 Grabsteine gerettet

Der bestehende Friedhof ist nicht mehr in seiner ursprünglichen Form erhalten. Im zweiten Weltkrieg wurde er geschändet, berichtet Elke Hartung. Sie erzählt, dass die Grabsteine an unterschiedliche Orte gebracht wurden. So liege in der Sakristei der Nürnberger Kirche St. Lorenz ein Grabstein aus dem Gunzenhäuser Friedhof. Rund 40 Steine konnten gerettet und wieder auf dem Friedhof aufgestellt werden – allerdings war der originale Standort nicht mehr nachvollziehbar.

Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

Ein Säckchen voll Sand

Zunächst gibt uns Elke Hartung einen Einblick in die jüdische Bestattungskultur. So erfahren wir, dass Juden ihr Sterbegewand schon zur Hochzeit bekommen. Und das sieht für alle gleich aus – egal welche Stellung der Mensch im Leben hatte. Eine Beerdigungsbruderschaft, die Chewra Kadischa, kümmert sich darum, dass der Leichnam im Taharahaus gewaschen und für die Beerdigung vorbereitet wird. Außerdem wird dem Verstorbenen ein Säckchen mit Sand aus Israel unter das Kissen gelegt. Die Toten werden immer in Richtung Osten begraben. So soll der Blick bei der Auferstehung in Richtung Osten – in Richtung Israel – gerichtet sein.

Kleine Steine auf Grabsteinen

Juden verehren ihre Verstorbenen, indem sie Steine am Grab ablegen. Das geht auf das Jahr 1.000 vor Christus zurück. Jakob musste seine Frau Rahel in der Wüste beerdigen. Um ihren Leichnam vor Tieren zu schützen, legte er Steine darauf, erklärt Elke Hartung. Bis heute hat sich diese Erinnerungskultur erhalten. Auch auf dem jüdischen Friedhof, entdecke ich einen Grabstein, auf den zwei Steine gelegt wurden.

„Ihre Seelen seien eingebunden in das Bündel des Lebens.“ Segensformel auf jüdischen Grabsteinen

Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

Bankhaus Gerst verwüstet

Elke Hartung führt uns zum ersten Grabstein und damit zur Geschichte der Familie Gerst. Das Bankhaus von Jakob Gerst wurde in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 verwüstet. Laut einer Augenzeugin waren die Schreie seiner Frau noch weit entfernt zu hören. Doch die Familie Gerst konnte fliehen. Auch ein Grabstein der Verwandten des Schriftstellers Jakob Wassermann steht auf dem jüdischen Friedhof in Gunzenhausen.

Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

 

Flucht in die USA

Am Grabstein der Familie Theilheimer erzählt Elke Hartung ein weiteres Schicksal: Gustav Theilheimer war 1933 auf dem Weg in die Synagoge und wurde von Jugendlichen angerempelt. In der Folge erlitt er einen Schlaganfall und starb. Seine Schwester, die seine Kinder aufzog, kam während des Holocaust ums Leben. Einer seiner Söhne schaffte die Flucht in die USA.

Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

Wütender Mob

Eindrücklich im Gedächtnis bleibt die Geschichte von Jacob Rosenfelder. Er war im März 1934 in einer Gunzenhäuser Gaststätte, als Obersturmbannführer Kurt Bär hereinkam. „Er räumte alles ab“, berichtet Elke Hartung. Sie wollten Jacob Rosenfelder „nach Hause bringen“. Es bildete sich ein Mob von rund 1.500 Menschen in der Stadt, der grölend durch die Straßen zog – hinter Jacob Rosenfelder her. Der wurde aufgehängt aufgefunden. Es heißt, er hätte sich selbst umgebracht, erzählt Hartung. Allerdings ist die Dokumentation und Aufklärung dieses angeblichen Selbstmordes sehr lückenhaft. Die Europäische Presse habe über diesen Vorfall als „reinigendes Gewitter“ geschrieben, so Hartung.

Ein Thora-Schild kehrt zurück

Mit gedrückter Stimmung gehen wir weiter zu einer weiteren Tafel, die sehr neu aussieht. Es ist die Erinnerungstafel der Familie Dottenheimer. Die Familie hatte einen Käse- und Weinladen in Gunzenhausen. „Das war eine gute Adresse“, weiß Elke Hartung. Die Dottenheimers hatten auch das erste Auto in Gunzenhausen. Frieda Dottenheimer brachte ein sehr wertvolles Thora-Schild mit in die Ehe. Von den vier Kindern von Frieda und ihrem Ehemann Sigmund Dottenheimer überlebte nur eines: Fredi. Er floh in die USA. Das wertvolle Thora-Schild war verschwunden. Sehr viele Jahre später tauchte es im Jüdischen Museum Franken wieder auf. Der damalige Leiter des Museums, Bernhard Purin, recherchierte, wem das wertvolle Stück vor dem Krieg gehörte. Und fand die Nachfahren der Familie Dottenheimer in New York. Die Anwältin Faye Dottheim-Brooks ist die Tochter von Fredi Dottenheimer und wusste bis dahin nichts über die Vergangenheit ihres Vaters. Mittlerweile pflegt die Familie guten Kontakt mit Gunzenhausen. Freundschaften sind entstanden. Eine der beiden Töchter von Faye Dottheim-Brooks lebte länger in Deutschland und hat da auch ihren jetzigen Mann kennengelernt.

Jüdischer Friedhof in Gunzenhausen | Foto: Vera Held

Erinnerungen wachhalten

Elke Hartung kann viele Geschichten über das jüdische Leben in Gunzenhausen erzählen. Sie hatte viel Kontakt mit Zeitzeugen und mit den Nachfahren der Familien, die einst Gunzenhausen ihre Heimat nannten. Mit ihren Führungen am jüdischen Friedhof hält sie die Erinnerung an diese Menschen wach. Ihre Erfahrung ist es, dass die jüdischen Nachfahren es gutheißen, dass an die Geschichten ihrer Vorfahren erinnert wird. „Wir sind nicht schuldig, aber wir werden es, wenn wir nichts über die Vergangenheit erzählen“, sagt Elke Hartung und entlässt uns in den Sonntagabend.

Diese eineinhalbstündige Führung macht nachdenklich, erinnert es uns an eine der schwärzesten Teile der deutschen Geschichte. Aber die Lebensgeschichten derer, die überlebt haben und Gunzenhausen wieder besuchen, geben auch Hoffnung.


Weitere Termine für die Führung „Bücher aus Stein bewahren Biografien“:

29.08.21, 16.00 Uhr

03.10.21, 16.00 Uhr

Preis:    5,00 Euro

4,00 Euro mit der Seenland.Card.

2,00 Euro Kinder ab 15 Jahre

Kinder bis 14 Jahre frei

Männer benötigen eine Kopfbedeckung.

Weitere Informationen gibt es bei der Tourist-Information Gunzenhausen unter 09831 / 508-300

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